Gert Gekeler* |
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Bemerkungen zu meinem Lebenslauf und meiner künstlerischen Entwicklung
Fünf Jahre vor Ende des letzten Weltkrieges kam ich als viereinhalb-Pfünder in
Stuttgart zur Welt und wurde mit Lebertran großgezogen. Mit meiner Mutter und
meinem Bruder wohnte ich bis 1950 in verschiedenen Orten im Kreis Backnang.
Nach
der Rückkehr meines Vaters aus der Kriegsgefangenschaft zogen wir mit meiner
Halbschwester nach Backnang, ab 1957 lebten wir in Ulm. Nach dem Abitur nahm ich
1959 mein Studium in Heidelberg auf und wechselte 1962 nach Berlin. Ab 1973
arbeitete ich an der Fachhochschule Fulda. 1988 zog ich, des Glückes wegen, zu
meiner dritten Frau und ihren beiden Kindern nach Marburg.So viel zu den Oberflächendaten meiner Biographie.
Im Alter von fünf bis zehn Jahren lebte ich auf einem Bauernhof in Aichelbach im
Kreis Backnang. Das war für mich eine wichtige Zeit. Damals hatte ich viel Zeit,
langweilte mich aber nie. Größtenteils beschäftigte ich mich selbst, baute
Staudämme, pflückte Blumen und Gräser, sah Ameisen zu und setzte mich mit
aggressiven Gänsen auseinander. Mit den Bauernkindern prügelte ich mich viel und
spielte gern mit ihnen und verliebte mich mit viereinhalb Jahren erstmals
unsterblich.Meine erste Begegnung mit Kunst als etwas Machbarem hatte ich bei der Durchsicht
einer Mappe mit Bildern meines Vaters, die mir meine Mutter zeigte. Ich war
damals etwa sechs Jahre alt. Staunend stellte ich fest, dass man „so was“
offenbar selbst machen konnte. Ich fing dann auch an, mit Bleistiften etwas zu
machen und hatte alsbald mein erstes Misserfolgserlebnis beim Zeichnen der
Hühner auf dem Misthaufen vor dem Haus.
Eine andere Beziehung zu Kunst bildete sich schleichend heraus: Immer hingen in
meiner unmittelbaren Umgebung zwei Bilder von Dürer (Das Rasenstück und ein
Landschaftsaquarell) und ein Kinderkopf von Holbein. Als ich älter war,
identifizierte ich alle drei Bilder als „Kunst“. In der Oberschule in Backnang führte mich mein Zeichenlehrer an die moderne
Kunst heran. Im Unterricht durfte ich auch den anderen Schülern helfen und meine
Aufgaben zuhause erledigen. Das setzte sich im Kepler-Gymnasium im Ulm fort.
Ansonsten war ich buchstäblich vom ersten bis zum letzten Tag wütend auf Schule,
aber keineswegs auf alle Lehrer.
Mit dem Abitur in der Tasche wollte ich eigentlich Sport und Kunst studieren, um
eine guter Lehrer zu werden. Heidelberg gefiel mir als Universitätsstadt so gut,
dass ich beschloss, dort zu studieren. Sport und Kunst „gab es nicht“, also
versuchte ich mich für ein Studium Generale einzuschreiben. Es wurde aber
„Philosophie und Kunstgeschichte“. Ein Jahr später wechselte ich dann zur
Psychologie, weil das eine Wissenschaft zu sein versprach, die sich mit dem
Menschen beschäftigte. Mit einer solchen Wissenschaft wollte ich mich
auseinandersetzen und dabei besser erkennen, wer ich war.
Mit einigen von mir als Leerzeiten erlebten Ausnahmen habe ich mich dauernd
künstlerisch betätigt. Ab siebzehn malte ich erst mit Tempera-, dann mit
Ölfarben immer auf einem Wohnzimmertisch. Herrichten, malen, nichts
verschmutzen, ab- und aufräumen, lüften, -das waren die lästigen Aspekte meines
künstlerischen Tuns. Andererseits erlebte ich mich als einen, der etwas zustande
brachte und darin völlig aufging. Mit meinen Produkten war ich nie zufrieden,
war aber stolz darauf, sie gemacht zu haben. Ich war tief fasziniert von Kandinsky und Klee. Klee erschien mir zu subtil,
also kopierte ich Kandinsky, aber das misslang und war außerdem langweilig.
Statt ihn weiter zu kopieren, begann ich, in seiner Art zu malen und „vergaß“
ihn bald.
Um beim Aufbau des Psychologischen Instituts der TU Berlin zu helfen, zog ich
1962 von Heidelberg nach Berlin, schloss dort mein Psychologiestudium ab, wurde
Assistent, promovierte und hatte in dieser Zeit erste Kontakte zum
„Holzkamp-Institut“ an der FU Berlin. In diesen Kontakten veränderte sich meine
Auffassung von mir selbst und vom Menschsein nachhaltig. Ich begann mich als ein
gesellschaftlich-historisches Wesen zu verstehen. Das wirkte sich auch auf mein
künstlerisches Tun aus. Ich begann, meine eigenen Bilder so zu gestalten, dass
in ihnen mein widersprüchliches Sein und Denken und Fühlen zum Vorschein kamen,
indem ich bewusst Widersprüchliches einbaute.
Diese Entwicklung hielt nach
meinem Umzug 1973 nach Fulda an, wo ich an der dortigen Hochschule eine
Professur erhielt. Durch Begegnungen mit Jürgen Blum, der die Tradition des
Künstlerdorfes Kleinsassen in der Rhön wiederbelebte und grandiose Spuren in der
Region hinterließ, entwickelte ich meine Art, geometrisch-konstruktivistisch zu
malen (Vgl. dazu Bild Nr. in …..). Ihm verdanke ich auch die Teilnahme an einer
Reihe von Ausstellungen, zu denen er mich „mitnahm“.
Nach einer Tätigkeit als Prorektor an der Hochschule Fulda gründete ich 1992 das
Projekt Bindeschuh
und befasste mich mit der Förderung künstlerischen Handelns bei geistig
behinderten Menschen.
Gleichsam hinter diesem Projekt stand mein Bruder Armin, ein liebenswerter Mensch mit Down-Syndrom, der, mich nachahmend, malte. Er schuf
so um die vier- bis fünftausend Bilder. Trotz dieser Produktivität wollte er nie
als Künstler bezeichnet werden, weil ihn das verpflichtet hätte, jeden Tag zu
malen und auch deswegen, weil er kein „Jägerhaus im Wald mit Reh“ malen konnte.
Oft lief er grantelnd in der Wohnung herum, weil er „eine Idee hatte, die (er)
nicht malen konnte“. Ich versuchte meinerseits, seine Bilder nachempfindend zu
kopieren und scheiterte kläglich, weil mir die vitale Spontaneität, die seinen
Bildern eignete, nicht gelang.
Im Projekt Bindeschuh begann ich bald die Möglichkeiten zu eruieren, die der
Computer zusammen mit Drucker und Scanner und Fotoapparat als Gestaltungsmittel
für die geistig behinderten Projektmitglieder bot. Ich selbst musste mir von den
studentischen Projektmitgliedern beibringen lassen, wie das umzusetzen war, was
ich mir als Entwicklung für das Projekt vorstellte. 1997 nahm das Projekt am europaweiten Wettbewerb „Creative Computer – Overcoming
Borders“ teil, in dem es um Computerkunst geistig behinderter Menschen ging. Für
seine Arbeit wurde es in Brüssel von der UNESCO ausgezeichnet, eine große
Anerkennung und ein Ansporn, weiter zu machen.
Das Projekt Bindeschuh möchte ich heute als ein Beuys’sches Projekt bezeichnen.
Alle Projektteilnehmer*innen entwickelten
in
ungeahntem Ausmaß ihre individuelle
Spiritualität, Offenheit, Kreativität und
Phantasie, was Beuys als Grundlage künstlerischen Schaffens ansieht. Vor
allem aber die geistig behinderten Mitglieder gestalteten, indem sie die
Studierenden dafür einspannten, „ausgriffig“ ihre soziale Um- und Lebenswelt.
Indem sie mit Foto und Kamera auf dem Wochenmarkt auftauchten, in Ausstellungen
ihre eigenen Werke z.B. für das Fernsehen des Hessischen Rundfunks
kommentierten, Tische für ein Café anmalten, von sich aus auf dem Campus Geld
für das Projekt sammelten, im Projekt und außerhalb des Projekts Theater
spielten, schufen sie die Basis für Ausrufe der Art: „Das hätte ich geistig
behinderten Menschen nie zugetraut!“, womit offensichtlich ein negatives
Vorurteil zusammenbrach! Durch ihre Arbeit im Projekt nahmen alle
Projektmitglieder an der Gestaltung der Sozialen Plastik im Sinne von J. Beuys
teil. Wir waren alle gemeinsam Künstler.
Meine künstlerische Entwicklung ging ab etwa 2000 in eine neue Richtung.
Basierend auf dem, was ich im Projekt Bindeschuh gelernt hatte, begann ich
eigene Fotografien am Computer umzugestalten.
Die Fotos, die ich bearbeitete, beinhalteten Pflanzen, Rostiges,
Landschaften und später Schatten. Menschen tauchten nur als Schatten auf.Die Transformationen, denen ich die Fotos unterzog, und davor schon die Bilder
mit Tempera- Ölfarben hatten einen tragenden philosophischen Hintergrund. Als
Fünfzehnjähriger las ich erstmals Laotse.
Mich beeindruckte sehr, dass er über etwas sprach, über das, nach seinen eigenen
Worten, nicht gesprochen werden konnte: Das Tao. Fasziniert las ich die
Geschichten, in denen im Kleinen und Alltäglichen das Große und Letzte
aufschien. Viele andere Philosophen haben mich im Laufe der Zeit beeindruckt und
beeinflusst, hauptsächlich aber galten sie mir als weiterführende
Spezifikationen des Ansatzes von Laotse.
In meinen Bildern begann sich mir im Laufe der Zeit das Denken des Laotse in
bildhafter Form zu zeigen. Ich bemühte mich mein Gestalten so zu kultivieren,
dass diese tiefe Weise der Wahrnehmung leicht gelingen konnte.
*Nachtrag
Kurz nach Fertigstellung der Druckfassung dieses Buchs erlitt Gert einen
Schlaganfall, von dessen Folgen er sich nicht mehr erholen konnte. Er ist am 5.
Januar 2019 verstorben. Dieses Buch soll deshalb auch an ihn und an sein
künstlerisches Schaffen erinnern. In seiner Neigung zum Understatement hat er in den Angaben zu seiner Biografie
wichtige Seiten seiner Person und seines Lebens nicht erwähnt, die ich als seine
Ehefrau sehr geschätzt habe und deshalb hier nachtragen möchte.79 Jahre ist Gert fast geworden. Sein jüngstes Enkelkind wird bald eins. Im Kopf
war er bis zum Schluss jung, neugierig und aufgeschlossen für Neues. Das ist
bestimmt eine gute Voraussetzung für seine Reise hinter den Horizont. Er war
kritisch und engagiert und hat Aktionen und Vereine unterstützt, die sich auf
solche Weise in der Gesellschaft bemerkbar machten, wie z.B. Attac. Das fand er
wichtig.Zu Kindern, Tieren und der Natur in all ihren Facetten hatte Gert einen direkten
und unmittelbaren Zugang. Der Kontakt zu ihnen war ihm Lebenselixier. Mit seinen
Kindern und Enkeln oder deren Freunden machte er gerne Quatsch. Auch die
sonntägliche Mau-Mau-Runde möchte ich erwähnen. Und seine Begabung, Kindern
Mathe zu erklären. Dann sein Faible für Schweine und Wildschweine, die er
gesammelt hat.Als Meike, Karlotta und Christopher 2011 in unser Haus zogen und Gert und Bärbel
ihnen dort eine eigene Wohnung einrichteten –später kam auch Thorvald dazu –
begann für Gert sicher die schönste Zeit nach seiner Pensionierung. Das große
Haus, in dem Bärbel und Gert mittlerweile alleine waren, wurde plötzlich wieder
voll. Ein neues Leben mit einer Großfamilie begann. Mit großer Begeisterung
kümmerte er sich um Karlotta und Christopher und wurde nie müde, ihnen die Welt
zu erklären, ihnen vieles zu zeigen, mit ihnen zu kuscheln und sie zu lieben.Gert war, wie schon erwähnt, ein bescheidener und zurückhaltender Mensch und
zugleich großzügig, warmherzig, zugewandt und begeisterungsfähig. Wenn er einmal
zu jemandem Vertrauen gefasst hatte, war er ein treuer Freund. Er liebte jede
lebendige Diskussion, war aber auch ein „Sturkopf“. Wenn er sich etwas in den
Kopf gesetzt hatte, konnte er leidenschaftlich dafür streiten. Und oft brauchte
es dann einige Zeit, bis er wieder zurückfand. Er war ein großer Genießer. Und Essen war für ihn in ganz verschiedenen Weisen
lecker und wundervoll: ob ein 5-Gänge Überraschungsmenü, Sushi oder einfach
Pellkartoffeln mit Butter. Er liebte es, mit Bärbel in den Alpen zu wandern,
nach einem Unfall 2010 war das leider nicht mehr möglich. Er fütterte Vögel und
beobachtete sie und lernte, ihre Stimmen zu unterscheiden. Er sammelte Pilze und
Bärbel bereitete manches leckere Gericht daraus. In seiner Kunst hatte er verschiedene Themen und Schwerpunkte. Nicht zuletzt
brachte er Schönheit und Vergänglichkeit zusammen und fand die erste in der
zweiten.In den letzten Lebensjahren zeigte sich sein Humor noch mal in diesem Bild: Er
wolle nach dem Tod wie ein Eremit den Steinen in den Alpen beim Wachsen zusehen.
Und wenn dann ab und zu eine junge Frau zu Besuch käme, die einen Korb mit
Portwein und leckerem Essen dabeihätte, wäre das nicht verkehrt.
Marburg, im Mai 2019 Bärbel Schön